MARY SOON LEE
Die leere Tänzerin
Am Vorabend der Schlacht ging Hellia mit dem Feinde tanzen. Alles daran war ihr merkwürdig: Wie sie an der Wache vorüberging, das Gesicht unter der goldenen Todesmaske, wie die Soldaten ihre Arbeit unterbrachen, sie anstarrten und wie das grobe schwarze Tuch ihres Hemds auf ihrer Haut kratzte.
Seit vier Jahren, jeden Tag seit ihrem zwölften Geburtstag, hatte sie diesen Tanz geübt, die Schritte, die sie mit ihrem Partner machen musste, die Figuren, die sie allein zu tanzen hatte. Aber mit einem Fremden getanzt, das hatte sie bis zu diesem Abend noch nicht.
Ihr Gesicht hinter der Maske war glutheiß, nass vom Schweiß, als sie vor dem Zelt des Kommandeurs der feindlichen Armee stehen blieb. Sie war noch nicht bereit. Sie hatte einen Brechreiz.
Der Wächter hob die Zeltklappe. »Die Todestänzerin!«, meldete er und winkte Hellia hinein.
Sie trat ein. Das flackernde gelbe Licht der Öllampen an den eisernen Zeltstangen fiel auf eine abgenützte Einrichtung – schmaler Klapptisch mit zwei Feldstühlen, eine Matratze auf dem Boden, mit einer schon häufig geflickten Decke darüber, abgetretene Teppiche. Im Hintergrund des Zeltes saß ein Bursche auf dem Boden und war damit beschäftigt, einen Rostfleck vom Panzer des Hauptmanns zu entfernen. Eine ungebärdige Haarsträhne fiel ihm über die Stirn. Er sah auf, warf einen Blick auf ihre Maske und schaute, da er ihre Augen auf sich gerichtet sah, rasch zur Seite.
Hellia biss sich auf die Lippe – der Bursche hatte Angst vor ihr, vor ihrer Maske. Sie nahm den Blick von ihm, nickte dem zu, der im Dunkel wartete. »Hauptmann!« Er war kleiner, als sie gedacht hatte, und hatte hervorspringende Wangenknochen. Er sagte nichts, starrte an ihr vorüber, über ihre Schulter zu dem Wächter, als ob sie nicht existiere. »Hauptmann, bist du bereit?«
Da sah er sie kurz an, sah wieder beiseite. »Bringen wir es hinter uns.«
Er ging an ihr vorüber in die dunkler werdende Nacht hinaus. Sie folgte ihm, vergrößerte ihre Schritte, bis sie auf gleicher Höhe mit ihm schritt. Der Dolch in ihrem Stiefel drückte ihr beim Gehen auf die Wade. Die Soldaten bildeten einen großen Kreis um sie, da auf der größeren Bühne der östlichen Ebene.
Hellia und der Hauptmann hielten in der Mitte der Szene. Sie musterte ihn von der Seite: schmales Gesicht mit harten Zügen, die sie nicht zu deuten wusste. Die Nachtluft war kühl, aber ihr war es zu heiß. Hemd und Hosen kratzten, juckten. Inya, ihre Lehrerin, sollte jetzt hier sein … nicht sie.
Aber Inya lag drüben in ihrem Lager, tot. Sie hatte gemeint, sie schlafe noch, sich darum, um die Ältere nicht zu stören, erst gegen Mittag in ihr Zelt gewagt. Inya hatte die letzten Wochen immer so müde gewirkt … Als sie hineinkam, hatte die Totenstarre eingesetzt, war ihr Mund ganz verzerrt gewesen. Solange Inya so aussah, ließ sie keinen ins Zelt. Inya hätte nicht allein sterben sollen, ganz ohne Trost, Beistand, ohne Zeugen – aber die Würde, die ihrer alten Lehrerin so wichtig gewesen war, konnte sie ihr wenigstens zurückgeben. So hatte sie sich eine halbe Stunde bemüht, ihr das verzerrte Gesicht zu glätten, hatte das kalte tote Fleisch zurechtgepresst. Ihr schauderte, und so schob sie die Erinnerung daran beiseite.
Da öffnete sich der Kreis, um vier weiß gewandete Schlichter hereinzulassen, außer ihnen beiden nun die einzigen Personen im weiten Rund. Und als der größte der Richter die Hand hob, verstummten die Soldaten ringsum jäh. Nichts regte sich mehr als der Wind, der einen Hauch vom süßen Duft der Heidelbeere mit sich trug.
Hellia hörte sich selbst atmen, viel zu schnell atmen, hörte das Atemgeräusch des Hauptmanns neben sich. Sie sah kurz zu ihm auf, in dies Gesicht mit der harten Miene, die sie nicht zu lesen verstand.
Da zeigte der Schlichter auf den Hauptmann. »Akzeptierst du, im Namen deiner Krieger und deines Königs, unseren Spruch in der morgigen Schlacht?«
»Ich akzeptiere ihn.«
Darauf wandte sich der Richter an Hellia. »Erklärst du dich bereit, gemäß den Traditionen deines Ordens, unser Urteil zu vollstrecken?«
»Ja«, sprach sie. Aber sie wusste nicht, ob sie den nächsten Schritt dieses Weges gehen könnte. Sie fühlte sich innerlich so leer, ohne den Segen ihrer Göttin. Inya hatte gesagt, die Göttin käme rechtzeitig zu ihr. Aber die Zeit war vorbei und sie noch immer allein.
»Zur Besieglung eures Abkommens«, verkündete der Schlichter, »und zur Ehre der Göttin, die uns alle in ihren Händen hält, beginnt denn den Tanz.«
Der Hauptmann trat vor Hellia hin und fasste mit bloßer Hand nach ihrer Linken. Und da er sie berührte, flammte ein weißer Lichtball, von den Schlichtern gezaubert, über beiden auf.
Die jähe Helligkeit ließ ihre Augen tränen … Sie legte dem Hauptmann die Rechte auf die Schulter und fühlte die seinige auf ihrem Rücken, schwerer als Inyas Hand und so fremd. Der Atem stockte ihr, als sie den ersten Schritt tat – steif und schwerfällig, unter den starren Blicken aller. Der Mann roch nach Lampenöl und Schweiß.
Sie machten den nächsten Schritt und den nächsten. Jedes Mal, wenn ihr Fuß die Erde berührte, erscholl ein dumpfer Schlag. Und sie, wohl wissend, dass die Richter zur Beschwörung ihrer Göttin die Trommel rühren ließen, wurde das Gefühl, über die Haut eines großen Tiers zu tanzen, nicht los. Sie blickte am Hauptmann vorbei zu den Soldaten in der Runde – da wusste sie für eine Sekunde die Figuren des Tanzes nicht mehr, den sie Stunde um Stunde und Jahr um Jahr geübt hatte.
Der Hauptmann zischte: »Sieh mich an!« Und sie spürte seinen Atem an ihrer Wange.
Erstaunt starrte sie ihm ins Gesicht: harte Falten, glänzend vom weißen Licht, und nun las sie abrupt den Hass daraus. Sie stolperte, blieb mit dem Fuß an einem Stein hängen, und der Hauptmann fing sie hart auf.
Seine Hand schloss sich schmerzlich um ihre Finger. »Machst du dir über dein Tun Gedanken? Lässt es dich nicht schlafen?«
Sie war gefährlich nahe daran zu lachen: Dem Kerl war nicht klar, dass sie das noch nie getan hatte, dass sie noch nie mit einem Mann getanzt, noch nie getötet hatte – sie wandte den Blick ab, sah zum Himmel empor.
»Sieh mich an!«, sagte der Hauptmann. »Ihr habt den Krieg zu einem sauberen Spiel gemacht. Nicht zu viele Tote und keine verwundeten Krieger, die nach Hause hinken. Du Miststück …«
Hellia riss ihn in eine schnellere Umdrehung, sah zu, wie er sich mühte, auf den Beinen zu bleiben, grub ihm ihre Nägel ins Fleisch. Er bekam es zurück … Sie hatte ihn nicht dazu gezwungen, ihn nicht zur Schlacht befohlen. Nein, daran war sein König schuld, und es war ihre Pflicht, die Not, die aus dieser Entscheidung folgte, so gering wie möglich zu halten. Ihre Pflicht – sie musste daran denken, welch ruhiges Gesicht Inya bekommen hatte, wenn sie von Pflicht und Verantwortung redete und davon, dass die Angst die Leute wütend mache.
Inya hatte sich nie zum Spiegel fremder Angst werden lassen. Das ließe auch sie nicht zu. Beschämt verlangsamte sie ihren Schritt. Der Hauptmann verzog keine Miene. Sie konnte nicht zugleich in dieses Gesicht sehen und sich konzentrieren. So machte sie die Augen zu. Durch die geschlossenen Lider wurde das Licht zu einem schwachen rötlichen Schein. Und der Boden unter ihren Füßen brüllte wie eine hungrige Bestie.
»Sieh mich an!«, sagte der Mann.
Doch Hellia schüttelte mit geschlossenen Augen den Kopf und konzentrierte sich auf die Folge der Figuren. Mehr und mehr drängte sie Lärm und Begafftwerden aus ihrem Bewusstsein, bis nur noch der Tanz war, wo ein Schritt zum nächsten führte … Und jeder Schritt trug sie weiter weg, hinaus in ein dunkles Zentrum, wo nichts mehr war als die nächste Bewegung ihres Fußes.
Etwas zog an ihrer Hand.
Da öffnete sie die Augen. Der Hauptmann hatte Schweißperlen auf der Stirn. Er atmete schwer. Der Schiedsrichter, hinter ihm zu sehen, gab das Zeichen zur Beendigung des Tanzes. Sie hielt an, verbeugte sich einmal vor dem Hauptmann, ohne ihm in die Augen zu sehen, und verbeugte sich dann vor den vier Richtern.
Dann verließ sie den Kreis, eilte zu ihrem Lager zurück, um bei Inya zu wachen, die zweite Nacht seit ihrem Tod.
Beim Morgengrauen fuhr sie schuldbewusst aus dem Schlaf hoch. Sie hatte doch diese ganze Nacht Totenwache halten wollen … Die Schulter tat ihr weh: Einfach in den Schlaf gefallen war sie, auf die Matte neben Inyas Bett. Sie hörte die Soldaten umhergehen, draußen vor dem Zelt. Da wusch sie sich schnell mit kaltem Wasser die Hände und richtete ihre Kleider. Dann nahm sie die goldene Maske, hielt aber inne. Legte sie wieder hin und kniete sich neben Inya.
»Bitte …« Es hatte keinen Sinn weiterzusprechen. Inya hörte sie nicht mehr. Sie legte der Toten die Stirn auf die kalte Wange. Die Augen brannten ihr. Sie erhob sich abrupt, setzte die Maske auf und ging hinaus.
Die beiden Armeen stellten sich in der Ebene auf. Die Banner flatterten mit dem umspringenden Wind. Sie schritt durch die vorderste Linie der ihren, ihre Klingen lohten im Frühlicht. Dort vorn, auf dem vier Mannslängen hohen Hügel zwischen den feindlichen Heeren, warteten die weiß gewandeten Schlichter: zum Kreis geschart, die Blicke zur Mitte gerichtet.
Hellia stieg den Hügel hoch, und der Kreis teilte sich, ihr Einlass zu geben. Im Zentrum saß, allein, die Todestänzerin des Feindes mit ihrer silbernen Maske.
»Setz dich, Kind«, sagte die gegnerische Todestänzerin. »Es wird ein langer Tag.«
Etwas an ihrem Ton erinnerte Hellia an Inya – und das machte sie wütend. Diese Frau hatte kein Recht, so sanft mit ihr zu sprechen, als ob sie Freundinnen wären, als ob sie einander je etwas zu sagen hätten. Also kehrte sie ihr den Rücken zu, starrte steif zu den Soldaten hin und suchte nach Bekannten unter ihnen. Die wenigen Frauen waren, an den hochgebundenen langen Haaren, am leichtesten auszumachen.
Ein einsames Horn rief. Als sein tiefer Ton erstarb, drehten sich die Schiedsrichter um und blickten in die Runde. Da erstarrten die Soldaten mitten in ihren Bewegungen, wie zu Skulpturen – der eine noch die Hand erhoben, um sich am Kinn zu kratzen.
Da winkte der Schlichter, der ihr zunächst stand – und schon sank ein Soldat jäh zu Boden. Und auf den Wink eines anderen fiel ein weiterer. Hellia blickte sich nach den feindlichen Linien um. Reglos standen die Soldaten, erstarrt, aber jetzt fiel einer, und dann der nächste. Es war kein Blut und keine Verletzung zu sehen. Nein, die Richter bezeichneten die, die laut dem Wort der Göttin, in der normalen Schlacht gefallen wären – und die, so sie Pech hätten, vielleicht noch sterben müssten.
Hellia schluckte Galle und starrte zu Boden, unfähig, diesen Anblick länger zu ertragen. Später würden diese Richter, als Beweis der Barmherzigkeit ihrer Göttin, elf von je zwölf der Gefallenen gehen lassen – heil an Fleisch und Gliedern. Von den übrigen Gefallenen würde sie dann die des Feindes töten, die gegnerische Todestänzerin aber die von ihrer Seite.
Sie sah den ganzen Tag lang zu Boden. Einmal kroch ihr eine Ameise übers Bein. Die Sonne stieg hoch, sank langsam wieder. Eine Stunde vor Sonnenuntergang tönte ein Horn.
Hellia blickte auf. Die Soldaten bewegten sich wieder, bloß die Gefallenen nicht, die still auf der Erde lagen.
Jetzt stiegen die Schlichter, mit langen Schatten vom tiefen Licht, den Hügel hinab. Und sie schritten die Linien entlang und blieben stehen, um von je zwölf hingestreckten Gestalten elf mit ihrem Stock zu berühren. Und elf von je zwölf Gefallenen standen auf, um in ihre Reihen zurückzukehren … Und als die Richter fertig waren, waren nur noch zwei Dutzend Gefallene übrig.
Hellia erhob sich. Neben sich sah sie die andere Tänzerin – zum Schlachtfeld unterwegs wie sie. Sie imitierte sie nicht; diese Schritte musste sie selbst, selbständig gehen.
Hinab ging es, hinunter aufs Feld und zum ersten Feind. Ein Mann im mittleren Alter, mit einem Furunkel über dem rechten Auge. Sie fühlte sich leer innerlich, so bar der göttlichen Gnade, als sie zu ihm kniete. Sie nahm seine Hände, öffnete die Tore ihres Bewusstseins und griff in seine Gedanken.
Furcht rammte sich in sie.
Deren Wucht warf sie auf die Hacken zurück, einfach, brutal. Aber sie ließ seine Hände nicht los, nicht gehen … Endlich schwand die Furcht, da gab sie ihm über ihr Geistesband ein Bild ein: Er stand in schwindelnder Höhe, auf dem Kliff hoch überm grauen Meer. Die Sonne bahnte einen Pfad von flüssigem Feuer übers Wasser. Eine Möwe schwebte vorbei, ihre Flugbahn markierte die Kurve des Windes. Der Mann lächelte, in diesen Anblick versunken, in sich hinein.
Hellia zog ihren Dolch und stieß ihn ihm mit Macht zwischen die Rippen, dass das Blut sprang und spritzte.
Dann wischte sie ihre Klinge im zertrampelten Gras ab, erhob sich, mit schwachen, schwankenden Beinen, ging zum nächsten Gefallenen. Vage vernommenes Geschrei ließ sie aufsehen: Der gegnerische Hauptmann stritt sich mit den Schlichtern – eine Nebensächlichkeit, unwichtig, ohne Belang. Sie kniete zu dem Bestimmten, einem massigen Leutnant mit breiten, schwieligen Händen …
Als sie sich wieder erhob, drehte sich ihr alles … Zu ihrer Linken stand jemand und verstellte ihr den Weg zum nächsten. Der Hauptmann des Feindes. Er sah ihr ins Gesicht.
»Warte! Bitte!«, stammelte er heiser und wies mit unsicherer Hand auf den Liegenden. »Das ist mein Sohn. Lass mich seinen Platz einnehmen …«
Hellia musterte den Hingestreckten. Es war der Junge aus dem Zelt des Hauptmanns, der, der sich vor ihr gefürchtet hatte. »Nein, Herr Hauptmann. Es gibt keine Ausnahmen, kein Pardon, keinen Handel.«
Ihre Worte waren so leer und hohl wie sie selbst. Sie kniete sich ins Gras und ergriff seine Hände. Angst schnitt ihr ins Herz. Wie von fern hörte sie den Hauptmann: »Du glaubst, du brächtest ihn der Göttin dar. Aber du irrst.«
Sie nahm die Angst des Jungen an, wartete, bis sie nachließ, begann sodann, in seinem Bewusstsein ein Bild zu formen – auf einer Klippe, der klagende Schrei einer Möwe im Wind – aber der Offizier unterbrach sie, riss sie aus ihrer Konzentration. »Du glaubst, ich wollte ihn der Göttin schenken. Aber du irrst.«
Missklang, das Band zerriss vor Blut und Angst.
Hellia schrie gellend. Etwas Heißes, Nasses spritzte ihr ins Gesicht. Sie riss die Augen auf: Der Hauptmann war tief über seinen Sohn gebeugt. Der Griff eines Dolchs ragte dem Jungen aus dem Hals. Blut tränkte seinen Rock, bildete eine Pfütze.
Sie suchte nach seiner Seele. Fort!
Und der Hauptmann starrte sie an. »Du glaubst, die Göttin segne dich …«
»Nein«, erwiderte Hellia, ließ die Leiche los und erhob sich vorsichtig, unsicher, mit zitternden Beinen. »Ich hoffe, sie segnet, was meine Aufgabe und Mission ist.«
Es war hart, an dem Hauptmann vorbeizugehen, hart auch, zum nächsten Gefallenen zu gehen. Sie kniete sich neben ihn, bar des göttlichen Segens. Und bar auch der Hoffnung, dass er ihr je zuteil würde.